Und die Pathologisierung geschlechtsvarianter Menschen geht weiter…

Am 02.11.2020 findet im Ausschuss für Inneres eine öffentliche Anhörung zu einem Gesetzentwurf von Bündnis 90/DIE GRÜNEN zur Aufhebung des Transsexuellengesetzes und Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes (SelbstBestG) statt. Zwei weitere Parteien – die FDP und DIE LINKE – haben ähnliche Entwürfe für Selbstbestimmungsgesetze eingebracht. Es sollen nun Sachverständige gehört werden.

Unter anderem soll der umstrittene Kinderarzt und Psychiater Alexander Korte gehört werden. Dieser vertritt die Ansicht, dass Menschen erst nach Durchleben der Pubertät wissen könnten, welches Geschlecht sie haben.

…Kinder und (teils auch) Jugendliche können die Bedeutung, Tragweite und Folgen einer somato-medizinischen Transitionsbehandlung – d. h. irreversible körpermodifizierende Maßnahmen zur äußeren Geschlechtsangleichung (entwicklungsverändernde Pubertätsblockade durch GnRH-Analoga, konträrgeschlechtliche Hormonsubstitution mit Östrogen-/Testosteron-Präparaten, genital-chirurgische Eingriffe und eventuell weitere ästhetisch-medizinische Interventionen) – nicht hinreichend erfassen; sie sind deshalb in dieser Frage keineswegs autonom einwilligungsfähig. Die Gründe dafür liegen in der eingeschränkten sozio-emotionalen und kognitiven Kapazität in Verbindung mit einer vor Pubertätsabschluss naturgemäß noch nicht abgeschlossenen psycho-sexuellen Entwicklung…

Dr. Alexander Korte (2020), https://www.bundestag.de/resource/blob/802752/8fe155e6f019c4734ae2aa92efe2f505/A-Drs-19-4-626-C-neu-data.pdf

Im „Normalfall“ wird die Pubertät bei Mädchen zwischen dem 10. und 18. Lebensjahr und bei Jungen zwischen dem 12. und 21. Lebensjahr durchlaufen. Ich möchte nun Sie, liebe Lesende fragen: Wann wussten Sie, dass Sie ein Mädchen (bzw. Frau) oder ein Junge (bzw. Mann) sind? Nach Dr. Korte konnten Sie, sollten Sie eine Frau sein, also frühestens mit 18 Jahren wissen, dass Sie eine Frau sind. Ich weiß nicht, ob Herr Dr. Korte bei seinen Unterstützern aus CDU und CSU (und ich meine damit ausschließlich Männer) Zustimmung findet, wenn er ihnen unterstellt, bis zum Alter von 21 Jahren hätten sie nicht wissen können, ob sie Männlein oder Weiblein sind.

Weicht bei einem minderjährigen Menschen das Wissen über sein Geschlecht von den körperlichen Merkmalen ab und wird der Geschlechtseintrag der betroffenen Person im Geburtsregister geändert (nach aktueller Gesetzeslage ist das nach dem Transsexuellengesetz möglich), so möchte Herr Dr. Korte medizinische Maßnahmen dennoch an seine Interpretation von Geschlecht binden:

Die Indikationsstellung für eine operative Intervention bei Minderjährigen mit Störungen/›Varianten‹ der Geschlechtsentwicklung (DSD) ist vorrangig eine ärztliche Aufgabe, nicht aber eine rechtliche.

Dr. Alexander Korte (2020), https://www.bundestag.de/resource/blob/802752/8fe155e6f019c4734ae2aa92efe2f505/A-Drs-19-4-626-C-neu-data.pdf

Herr Dr. Korte schreckt auch nicht davor zurück, geschlechtsvarianten Kindern eine generelle „Intelligenzminderung“ zu unterstellen:

Als Begründung für die Sinnhaftigkeit, respektive Notwendigkeit der Einbeziehung einer speziellen kinder- und jugendpsychiatrischen Expertise führt die DGKJP den Umstand an, dass betroffene Kinder/Jugendliche mit DSD nicht selten an koinzidenten oder sekundären psychischen Störungen leiden und zudem bei einigen Formen der Intersexualität eine Intelligenzminderung vorliegt, welche die Einschätzung der Einsichtsfähigkeit zusätzlich erschwert.

Dr. Alexander Korte (2020), https://www.bundestag.de/resource/blob/802752/8fe155e6f019c4734ae2aa92efe2f505/A-Drs-19-4-626-C-neu-data.pdf

In der Historie finden sich ähnliche Modelle, bei denen konstruierte Pathologisierung von Menschen dazu genutzt wurde, um Privilegien einer Gruppe zu manifestieren und einer anderen Gruppe in Abrede zu stellen. Als ein Beispiel lässt sich die, 1851 vom amerikanischen Arzt Samuel Adolphus Cartwright (1793 – 1863) benannte »Drapetomanie« anführen. Unter Drapetomanie wurde der Drang von afrikanischen Sklaven aus der Gefangenschaft zu entfliehen bezeichnet und galt als psychische Krankheit.

»The cause in most cases, that induces the Negro to run away from service, is such a disease of the mind as in any other species of alienation, and much more curable, as a general rule.«

Randall, V.R., 1993-2008, An Early History – African American Mental Health, http://academic.udayton.edu/health/01status/mental01.htm

Wir wollen uns nicht vorstellen, welche »Therapien« damals zur Heilung der Sklaven angewandt wurden. Heute können wir das kaum glauben. Das Beispiel der Drapetomanie ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Pathologisierung von Menschen anhand körperlicher Eigenschaften, beispielsweise der Hautfarbe, erfolgt. Was bei der Hautfarbe oder anderen Eigenschaften eines Menschen „funktioniert“, das wird seit vielen Jahrzehnten auch bei geschlechtsvarianten (transsexuellen) Menschen in Perfektion praktiziert. Michaela Katzer (2016:96) zitiert aus dem »Lehrbuch für Psychiatrie« (Bleuer et al.) aus dem Jahr 1983:

»Die Entstehung der Störung (Anm.: gemeint ist Transsexualität) bleibt deshalb zur Hauptsache rätselhaft. Ihre Einreihung unter psychogene Entwicklungen ist ein Notbehelf…«.

Bleuer et al. (1983), in Katzer, M. & Voß, H-H. (Hrsg.) (2016). Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, Praxisorientierte Zugänge. Gießen: Prosozial-Verlag

Und dieser besagte Notbehelf wird seit Jahrzehnten durch Psycholog*innen und Politiker*innen nicht revidiert. Ganz im Gegenteil, wie die Stellungnahme von Korte zum Entwurf des Selbstbestimmungsgestzes deutlich zeigt, wird weiterhin eine Pathologisierung geschlechtsvarianter Menschen betrieben. Es wird weiterhin eine psychische Störung konstruiert und – das ist besonders perfide – damit die Glaubwürdigkeit der Aussage von geschlechtsvarianten Kindern und Jugendlichen über ihr eigenes Geschlecht in Frage gestellt.

Und weiterhin gilt: Es wird wieder über geschlechtsvariante Menschen, aber nicht mit ihnen geredet!

In einem öffentlichen Brief von Eltern eines transsexuellen Kindes an die Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt die Kritik am Sachverständigen Korte zum Ausdruck:

Offener Brief an Kanzlerin Merkel (26.10.2020)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

am 2. November findet im Bundestag eine öffentliche Anhörung zum Selbstbestimmungsgesetz statt. Wir sind Eltern eines zwölfjährigen trans Mädchens, deshalb ist diese Anhörung für uns von enormer Wichtigkeit, und wir sind in Sorge. Wir sind in großer Sorge, auch wenn unsere Tochter ihre Vornamens- und Personenstandsänderung bereits gerichtlich erwirken konnte und inzwischen auch ihre Schulzeugnisse – in diesem Alter wohl die wichtigste amtliche Angelegenheit – auf ihren korrekten Namen erhält.

Unsere Tochter ist ein trans Mädchen. Das heißt, dass wir sie nach ihrer Geburt fälschlicherweise für einen Jungen hielten, während sie bereits in ihren ersten Lebensjahren konsistent und nachhaltig mitgeteilt hat, dass diese Zuordnung für sie so falsch ist, dass sie mit ihr nicht leben kann. Es hat lange gedauert und viel Auseinandersetzung gebraucht, bis wir das wirklich verstanden haben. Unserer Tochter geht es heute gut. Aber sie hat aus dieser Zeit, in der sie sich unverstanden und oft beschämt gefühlt hat, seelische Verletzungen zurückbehalten, die sie leider bis heute in manchen Dingen beeinträchtigen.

Durch unser Kind ist uns klar geworden, wie notwendig es ist, dass alle Menschen von Anfang an vollkommene Akzeptanz für ihr eigenes Geschlechtsempfinden erfahren – nicht nur diejenigen, bei denen sich das eigene Empfinden mit der Zuordnung deckt, die sie von außen erfahren haben. Diese Notwendigkeit bezieht sich nicht nur auf den engsten Familienkreis, sondern auf alle Lebensbereiche, beispielsweise auch auf pädagogische, medizinische und rechtliche Kontexte. Ein Kind, das in seinem innersten Empfinden, in seinem ureigensten Sein immer wieder in Frage gestellt wird, kann sich weniger gut entwickeln, weniger gut lernen, weniger gut wachsen, als ein Kind, das sich mit seiner ganzen Persönlichkeit angenommen fühlt.

Aus diesem Grund sind wir sehr besorgt darüber, dass die CDU/CSU Fraktion Herrn Dr. Alexander Korte von der LMU München als Experten in diese öffentliche Anhörung berufen hat. Dr. Korte verfolgt im Hinblick auf Kinder wie unseres einen Behandlungsansatz, der von unserer zwölfjährigen Tochter, die seit ihrem siebten Lebensjahr überall in ihrem Umfeld als Mädchen akzeptiert ist, verlangen würde, in den nächsten Jahren eine Pubertät unter Einfluss von Testosteron zu durchleben. Das würde für sie irreversible körperliche Veränderungen mit sich bringen wie Stimmbruch, Bartwuchs, breite Schultern. Später, nach Abschluss der Pubertät könnte sie versuchen, diese Spuren mit ungewissem Erfolg und unter vielen Schmerzen und Kosten zu tilgen. Bis dahin müsste sie sie ertragen.

Wir plädieren keinesfalls dafür, leichtfertig Entscheidungen über pubertätsblockierende oder geschlechtsangleichende Maßnahmen zu treffen. Aber wir schließen uns klar der Einschätzung des Deutschen Ethikrats in seiner Ad-Hoc-Stellungnahme vom 21. Februar diesen Jahres an:

Nutzen und Schaden der medizinisch-therapeutischen Maßnahmen, die im Einzelnen umstritten sind, müssen in jedem individuellen Fall sorgfältig abgewogen werden. Wie die Risiken, (Neben-)Wirkungen und langfristigen Folgen (einschließlich möglicher Infertilität), die dem/der Minderjährigen durch aktives medizinisch-therapeutisches Eingreifen entstünden, müssen auch solche berücksichtigt werden, die durch das Unterlassen von Maßnahmen drohen. Gerade angesichts der Streitigkeit einzelner Handlungsoptionen haben Betroffene und ihre Eltern einen Anspruch auf eine ausgewogene Beratung und Aufklärung.

Diese Stellungnahme ist das Ergebnis einer öffentlichen Veranstaltung des Deutschen Ethikrates in der Reihe „Forum Bioethik“ am 19. Februar 2020 in Berlin. Auch bei dieser Veranstaltung war Herr Dr. Korte als Experte geladen und hatte Gelegenheit, seine Argumente und Erkenntnisse vorzubringen. Es wurde allerdings im Laufe der Veranstaltung deutlich, dass er mit seinen Einschätzungen sowohl von anderen ärztlichen Kolleg_innen aus den Fachrichtungen Psychiatrie und Endokrinologie als auch von betroffenen Eltern und ehemaligen trans Kindern erheblichen Widerspruch erzeugte. All das lässt sich in der Dokumentation der Veranstaltung des Ethikrats sehr gut nachvollziehen. Herr Dr. Korte nimmt also in seinem Fachgebiet eine ausgesprochene Extremposition ein.

Dass die CDU/CSU sich diese Extremposition zu eigen macht und Herrn Dr. Korte im Bundestag die Gelegenheit gibt, seine Argumente ausführlich darzulegen, erschüttert uns. Die rechtliche Situation von trans, inter und nicht-binären Personen muss in Deutschland unbedingt verbessert werden. Hierzu waren wir im Übrigen auch schon mit einigen Ihrer Parteikolleg_innen in Kontakt, und wir wissen, dass auch in der CDU/CSU Menschen zu finden sind, die dem Schutzbedarf von Menschen wie unserer Tochter gerecht werden wollen.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel, wir bitten Sie von Herzen, Ihren Einfluss innerhalb der Partei und der CDU/CSU-Fraktion geltend zu machen, um für trans, inter und nicht-binäre Personen ein gesundes, glückliches Aufwachsen, vollständige Chancengleichheit und eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe wahr werden zu lassen.

Wenn Sie sich selbst ein genaueres Bild über die Situation von trans Kindern verschaffen wollen – lernen Sie unsere Tochter und uns kennen. Wir berichten Ihnen gerne von unseren persönlichen Erfahrungen und von den vielen Familien, die wir auf unserem Weg getroffen haben, und mit denen wir den Wunsch teilen, unsere Kinder glücklich und selbstbewusst aufwachsen zu sehen.

Mit freundlichen Grüßen
Mutter und Vater von Paula, 12 Jahre alt


Kleines Quiz zur heutigen Anhörung von Alexander Korte als „Sachverständigen“ im Innenausschuss zur Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes (eingebracht von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, FDP und DIE LINKE):

Aus welchem Jahr stammt folgende Aussage?

»Nach dem heutigen Stand der Forschung ist diesen Menschen (Anm. der Autorin: gemeint sind transsexuelle Menschen) in der Tat nur dadurch zu helfen, daß man nach gründlicher diagnostischer Abklärung und vorbereitenden Maßnahmen ihnen diesen Wunsch (Anm. der Autorin: nach medizinischen Maßnahmen zur Geschlechtsanpassung) erfüllt. Alle anderen psychotherapeutischen Maßnahmen oder medikamentöse Behandlungsversuche sind völlig sinnlos.«

Die Lösung lautet:

1 9 7 5

Bereits vor 45 Jahren wussten die sog. „Experten“, dass Transsexualität nichts mit Psychologie zu tun hat und dennoch überlassen Politiker von CDU und CSU noch heute Psychologen und Psychiater als sog. Sachverständige die Deutungshoheit über geschlechtsvariante Menschen.

Die Aussage stammt übrigens vom Psychiater und Sexualwissenschaftler Eduard Schorsch aus dem Fachbuch „Therapie sexueller Störungen“ (Hrsg. Volkmar Sigusch, 1975, S. 135-136, Georg Thieme Verlag, Stuttgart).