von Jessica Gerhardt
Um an mein gestriges Essai über Vorurteile anzuschließen, heute ein paar Worte über ein Vorurteil, von dem ich selbst betroffen bin. Wenn wieder einmal von Menschen wie mir die Rede ist, hört und liest man immer wieder; „wünscht sich eine Frau zu sein“, oder so etwas in der Art, sei es in den Medien, von Ärzten und Psychologen, die sich wie Experten fühlen, oder von Politiker und Richtern, die glauben, sie könnten besser darüber urteilen, was in mir vorgeht, als ich selbst.
Habt ihr irgendwo schon mal einen Artikel gelesen, wo von Menschen berichtet wurde, die sich eine Chemotherapie wünschen oder dreimal die Woche zur Dialyse fahren wollen? Selbstverständlich nicht, denn dies würde das enorme Leid jener Menschen, welche auf jene medizinischen Maßnahmen angewiesen sind verharmlosen.
Und diese Verharmlosung meines Leidensweges wird immer wieder praktiziert, wenn irgendwo behauptet wird, dass meinesgleichen sich wünscht diesem oder jenem Geschlecht anzugehören. Solch eine Aussage impliziert, dass ich irgendwann einmal eine Entscheidung getroffen habe, welches Geschlecht mir lieber wäre. Doch ich konnte mir mein Geschlecht genauso wenig aussuchen wie alle anderen.
Wenn ich mir mein Geschlecht aussuchen hätte können, dann wäre meine Wahl sicherlich nicht auf jenes Geschlecht gefallen, welches im Konflikt zu meinen Körpermerkmalen steht. Dann hätte ich gut und gerne auf die stigmatisierende Pathologisierung, die Hormonersatztherapie und die Operation verzichten können. Darauf, dass mich wildfremde Menschen in der frühen Outing-Phase auslachten, wie auch die sexuell erniedrigenden Befragungen, während des Gerichtsverfahrens hätte ich mir gerne erspart. Bitte tut nicht so, als hätte ich mir dies alles gewünscht, indem ihr Sätze wie diese sagt: „Du musst wissen, welchen Weg du gehen willst.“
Den folgenden Absatz werden wohl nur die wenigsten verstehen, aber vielleicht ist dies auch nur ein Vorurteil von mir, gegenüber den anderen. Es gab Phasen in meinem Leben, wo ich mir durchaus gewünscht habe, ich könnte mein Geschlecht wechseln; wo ich mir gewünscht habe, ich könnte ein Mann sein. Wo ich mir gewünscht habe, mich nicht mehr vor anderen zu verstecken und zu verstellen müssen. Wo ich mir gewünscht habe, ich könnte meinen Anblick im Spiegel ertragen. Wo ich mir gewünscht habe, es hätte eine alternative zum Outing gegeben.
Es hat keinerlei Vorteile eine Frau zu sein, welche mit männlichen Körpermerkmalen geboren wurde. Also, warum sollte man sich so etwas wünschen? Warum sollte ich mir wünschen, über Jahrzehnte im Stillen seelisch und körperlich zu leiden? Warum sollte ich mir wünschen, staatliche Diskriminierung und Ausgrenzung zu erfahren? Ich habe die Ärzte nicht aufgesucht, weil ich mir dieses oder jenes wünschte, sondern weil ich aufgrund des Leidensdruck seelisch und körperlich am Ende war. Ich habe meinen Geschlechtseintrag korrigieren lassen, weil der ursprüngliche Eintrag auf einem Irrtum beruhte. Ich wollte nie eine Frau sein, denn das war ich schon immer, ob ich dies nun wollte oder nicht.
Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre dies, dass meine angeborenen Körpermerkmale meinem Geschlecht entsprochen hätten. Oder aber auch, dass ich in einer Gesellschaft aufgewachsen wäre, die mir nicht von klein auf das Gefühl gegeben hätte, ich sei falsch; dass ich anstatt über Jahre mit Angst und Depressionen zu leben, ich mich rechtzeitig outen können; dass ich rechtzeitig die notwendige medizinische Hilfe bekommen hätte und mir somit die männliche Pubertät erspart geblieben wäre, deren negative Folgen mich Zeit meines Lebens begleiten werden. Jedoch lässt sich die Vergangenheit nicht ändern. Wenn ich mir etwas für die Zukunft wünsche, dann, dass in künftigen Generationen jenen Menschen, deren Körpermerkmale vom Geschlecht abweichen ein solcher Leidensweg erspart bleibt. Doch dafür muss sich in der Politik und Gesellschaft noch einiges ändern.