Brief einer Mutter…

Wir möchten heute einen Brief einer Mutter eines transidenten Kindes veröffentlichen. Der Brief richtet sich an Politiker*innen und zeigt, wie die Lebensrealität von Familien tatsächlich aussieht. Nämlich anders, als die Medien und auch die Politik uns Glauben machen wollen. Ein sehr bewegender Brief und zugleich auch ein Hilferuf für geschlechtliche Selbstbestimmung auch für Kinder.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin die Mutter eines transidenten Kindes. Mein Anliegen ist es, mit Ihnen als Mitglieder in den beiden für das Gesetzesvorlagen zur Reform des Transsexuellengesetzes zuständigen Ausschüsse einige Gedanken und Informationen zu teilen. Insbesondere ist es mir wichtig, Ihnen einen Einblick in unsere Lebensrealität als Familie – aber auch in die Lebensrealität von transidenten Menschen generell zu geben. Vorab: Die Lebensrealität dieser Menschen hat wenig mit der leider noch immer häufig stereotypen und sexualisierten Darstellung in den Medien zu tun.

Meine Tochter ist zehn Jahre alt. Sechs Jahre lang haben wir sie für einen Jungen gehalten. Sechs Jahre, in denen es unserem Kind zunehmend schlechter ging, sie von dem kleinen Sonnenschein, der sie etwa bis zum dritten Geburtstag war, immer mehr zu einem traurigen, wütenden Kind wurde, das mit seinem Leben unzufrieden war. Sie schickte uns so viele Signale, versuchte, uns auf die unterschiedlichsten Arten klarzumachen, dass wir sie falsch – nämlich als Jungen – behandelten. Wir Eltern haben es lange nicht verstanden. Wir hielten es für vollkommen unwahrscheinlich, dass ausgerechnet wir ein Kind haben sollten, das dem falschen Geschlecht zugeordnet wurde. Und dennoch wurde immer deutlicher, wie ernst es unserem Kind war, wenn es Mädchenkleidung verlangte, sich Mädchennamen gab und im Spiel immer wieder schwanger war, ihre Stoffpuppe zur Welt brachte und sie anschließend liebevoll versorgte und stillte. Mit viereinhalb Jahren fragte sie mich: „Mami, kann ich später auch mal eine Frau werden, so wie Du?“ Ich begann mich zu informieren und hegte noch immer große Zweifel. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein vierjähriges Kind sein Geschlechtsempfinden bereits so klar zum Ausdruck bringen kann. Es dauerte weitere zwei Jahre, in denen ich mich intensiv mit dem Thema Transidentität beschäftigte. Zwei Jahre, in denen es meiner Tochter kontinuierlich schlechter ging, in denen sie das Gefühl entwickelte, nicht in Ordnung oder gar verrückt zu sein, weil doch alle Welt ihr spiegelte, sie sei ein Junge, obwohl sie selbst sich immer schon als Mädchen empfunden hatte.

Es ging bei unserem Kind nicht einfach darum, dass sie gerne mal ein Kleidchen angezogen hat, oder dass sie lieber mit Puppen als mit Autos spielte. Es ging um soziale Zugehörigkeit, um Anerkennung, um das Gefühl, in Ordnung zu sein. Kurz vor dem Ende der Kindergartenzeit wurde mir das klar. Ich erzählte ihr, dass auch andere Menschen ähnlich fühlen wie sie. Dass es Menschen gibt, die sich entschließen, ihrem inneren Empfinden nach zu leben, auch wenn die Außenwelt das zunächst nicht nachvollziehen kann. Was das bei meinem Kind auslöste, war unglaublich – der Weg für eine soziale Transition war bereitet, und unsere Tochter ging diesen Weg mit einer unglaublichen Klarheit und mit sehr viel Mut und Stärke. Im Anschluss an ein Telefongespräch, das sie mithörte, und in dem ich zum ersten Mal von ihr in der weiblichen Form gesprochen hatte, sagte sie mir: „Mami, es war so schön, als Du eben meine Tochter gesagt hast.“ Seit wir sie als unsere Tochter sehen und behandeln, geht es ihr erheblich besser.

Dieser Weg ist nicht einfach, aber für unser Kind alternativlos. Wir wissen inzwischen, dass über 40% der transidenten Menschen, die in ihrer Kindheit keine Akzeptanz erfahren haben, mindestens einen Suizidversuch hinter sich haben. Für unsere Tochter konnten wir ein soziales Umfeld schaffen, in dem sie viel Akzeptanz erfährt. Sie singt im Opernchor und lernt begeistert Klavier spielen. Sie hat Freundinnen und Freunde, und sie geht meistens gerne in die Schule. Wenn sie Freundschaften schließt, erzählt sie ihre Geschichte, denn sie möchte so gemocht werden, wie sie ist.

Mit dem Wissen, das ich heute zum Thema Transidentität habe, bin ich sehr traurig über den Gesetzentwurf zur Änderung der Regelungen zur Vornamens- und Personenstandsänderung, der am 15. Mai den Interessenverbänden vorgelegt wurde. Ich weiß von vielen Menschen, Jugendlichen und Erwachsenen, welche Belastung das heutige Verfahren nach dem aktuellen TSG darstellt. Die schlimmsten Aspekte sind die langen Wartezeiten, die durch eine Überlastung der Gerichte und der Gutachter_innen entstehen; Gutachter_innen, die grenzüberschreitende und häufig retraumatisierende Fragen stellen, das Gefühl des Ausgeliefertseins, und auch häufig die Wichtigkeit, die das Verfahren für das individuelle Fortkommen im schulischen und beruflichen Kontext hat. Ich kenne viele Jugendliche, die nicht den Mut haben, sich um eine Ausbildungsstelle zu bewerben, so lange sie das nicht im für sie richtigen Geschlecht tun können. Viele Kinder, die Schulangst entwickeln, weil sie keine Rechtssicherheit haben, im schulischen Kontext angenommen zu werden als das, was sie sind.

Ihr Fraktionskollege X [Name der Redaktion bekannt] kennt übrigens unsere Tochter und uns persönlich. Fragen sie ihn gerne nach ihr. Und wenn auch Sie mehr über dieses Thema erfahren wollen: Lernen Sie uns kennen. Wir sind eine ganz normale Familie mit einem ganz normalen Kind, das wachsen, lernen und sich in der Gesellschaft einbringen möchte.

Meine Aufgabe als Mutter ist es nicht, Ihnen Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse zur vermitteln – ich gehe auch davon aus, dass diese Ihnen bekannt sind. Mir geht es einfach darum, Ihnen einen Zugang zu unserer Lebenswirklichkeit zu geben und deutlich zu machen, über welche Schicksale Sie mit diesem Gesetz entscheiden werden. Ich appelliere daher an Sie: Nehmen Sie die Rückmeldungen aus der Community zum vorgelegten Gesetzesentwurf ernst. Entscheiden sie für diese Menschen, die sich in unserer Gesellschaft einfach anerkannt und erwünscht fühlen wollen. Viele von ihnen hat der Gesetzesentwurf in Angst und Verzweiflung gestürzt. Lassen Sie bitte nicht zu, dass die Bundesrepublik Deutschland an diese Menschen, die alle einen schweren Weg gehen, das Signal sendet, dass sie und ihre Empfindungen nicht in Ordnung und in unserem Land nicht erwünscht sind.

Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie diesem Thema gewidmet haben. Für Rückfragen stehe ich sehr gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen
Die Mutter eines transidenten Kindes
[Name der Redaktion bekannt]