Geschäftsmodell TSG-Gutachten – Wie Psycholog*innen transsexuelle Menschen abzocken

Sie glauben, es ist ethisch verwerflich, dass man ein Geschäftsmodell betreibt, das auf der Abzocke einer vulnerablen Gruppe beruht. Sie sind auch der Meinung, dass es dumm ist, damit auch noch offen in sozialen Medien zu prahlen? Aber Sie glauben auch, dass Psycholog*innen doch sowas nicht tun. Psycholog*innen wollen ja schließlich Menschen helfen, mit ihren Problemen und Herausforderungen fertig zu werden. Oder? Nachfolgend zeige ich Ihnen an einem Beispiel, wie manche Psycholog*innen das Leid und die unwürdige rechtliche Situation transsexueller Menschen zum Geschäftsmodell machen.

Eines möchte ich vorweg klarstellen. Es geht mir in dem nachfolgenden Artikel nicht um ein grundsätzliches Psycholog*innen-Bashing. Schließlich bin ich ja selbst Teil dieser „Zunft“. Es gibt Psycholog*innen, die nehmen ihren Beruf oder ihre Tätigkeit sehr ernst. Auch im Umgang mit transsexuellen Menschen haben viele dazugelernt und sich von der Psycho-Pathologisierung der Vergangenheit verabschiedet. Es gibt sogar immer mehr Psycholog*innen, die sich dafür einsetzen, das unsägliche Transsexuellengesetz der 1980er Jahre endlich durch eine zeitgemäße und menschenwürdige Regelung zu ersetzen. Es geht wie immer um die schwarzen Schafe. Diejenigen, die ihr persönliches Gewinnstreben über den Auftrag, den Menschen zu helfen, stellen. Diese werden in nachfolgendem Beitrag kritisiert.

Seit vielen Jahren vertrete ich die Ansicht, dass es nicht wenige Psycholog*innen gibt, die aus der Begutachtung nach dem Transsexuellengesetz (TSG) ein Geschäftsmodell entwickelt haben. Für die Begutachtung nach dem TSG darf nach § 9 JVEG Anlage 1 (Honorargruppe M3) der höchste Satz von € 100,00 pro Stunde berechnet werden. Eine Vorgabe, wie umfangreich ein solches Gutachten sein muss, oder wie lange der Gutachtenprozess gehen darf, gibt es nicht. Nicht selten müssen von transsexuellen Menschen, die eine Vornamens- und Personenstandsänderung beim zuständigen Amtsgericht wünschen, für diese Gutachten Beträge von € 1.300 bis € 2.000 (Meyenburg et al. 2015, S. 119) bezahlt werden. Im Jahr 2018 wurden 2.614 Verfahren nach dem TSG an deutschen Amtsgerichten verhandelt (Bundesamt für Justiz, Stand 16.10.2020). Dafür waren, gem. TSG folglich 5.228 Gutachten erforderlich. Bei etwa zwei Drittel der Anträge bezahlt der Staat im Rahmen der Prozesskostenhilfe die Kosten der Gutachten (Meyenburg et al. 2015, S. 119). Über Prozesskostenhilfe wurden also etwa 3.400 TSG-Gutachten aus Steuermitteln bezahlt. Legt man einen „Gutachtenpreis“ von ca. € 600 zur Grunde, so hat der Staat 2018 mehr als 2 Mio. € an Gutachter*innen bezahlt. Von 2008 bis 2019 wurden laut Bundesamt für Justiz (16.10.2020) insgesamt 19.604 Verfahren nach dem Transsexuellengesetz verhandelt. Dies entspricht einer Anzahl von mind. 39.028 Gutachten. Nimmt man auch hierfür einen durchschnittlichen „Gutachtenpreis“ von € 600 an, so wurde von antragstellenden Personen und der Staatskasse seit 2008 insgesamt mind. 23,5 Mio. € an Gutachter*innen bezahlt.

Man könnte nun sagen, so ist die aktuelle Rechtslage. Das Transsexuellengesetz gilt nach wie vor. Die Gutachten müssen ja erstellt werden. Das stimmt. Aktuell bleibt transsexuellen Menschen kein anderer Weg um eine Änderung des Vornamens und Personenstands zu erreichen.

In einer Facebook-Gruppe bin ich am 08.02.2021 auf einen Beitrag gestoßen, der meine Vermutung, die Begutachtung ist zu einem lukrativen Businessmodell für unterbeschäftigte Psycholog*innen geworden, bestätigt hat. Eine Person hat in der Facebook-Gruppe „Psychologie“ die Frage gestellt, womit die Gruppenmitglieder, die nicht in der Therapie arbeiten, ihre Geld verdienen. An sich ist an dieser Frage nichts verwerflich. Auch Psycholog*innen müssen und dürfen Geld verdienen.

Doch die Antworten auf die Frage ließen mich aufhorchen.

Eine Person sagt also, dass die Erstellung von Gutachten nach den Transsexuellengesetz ihre Einnahmequelle ist und beschreibt, wie sie an diese Begutachtung „rangekommen“ ist. Ihr Chef hat ihr die Gutachten „abgetreten“ und so hat sie „den Fuß in die Tür der Gerichte bekommen“. Das Interesse anderer „Psycholog*innen“ an diesem Geschäftsmodell ist offensichtlich. Es erscheint, als könne man die Begutachtung an einem Wochenendkurs der Volkshochschule erlernen.

Man muss wissen, dass gem. § 4 Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG) Absatz 4 festgelegt ist, dass…

Das Gericht darf einem Antrag nach § 1 nur stattgeben, nachdem es die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt hat, die auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sind. Die Sachverständigen müssen unabhängig voneinander tätig werden; in ihren Gutachten haben sie auch dazu Stellung zu nehmen, ob sich nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft das Zugehörigkeitsempfinden des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr ändern wird.

§ 4 Abs. 3 TSG

Das TSG schreibt vor, dass bei der Begutachtung die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zu beachten sind. Seit vielen Jahren sind sich nahezu alle Expert*innen aller Fachrichtungen einig, dass Transsexualität keine psychische Erkrankung ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat dieses wissenschaftliche Faktum auch im neuen ICD-11 entsprechend gewürdigt und Transsexualität aus dem Katalog der psychischen Störungen (F64.0) gestrichen. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt hierzu:

In der ICD-11 ist die Diagnose „Gender Incongruence“ (Geschlechtsinkongruenz) dem neu geschaffenen Kapitel „conditions related to sexual health“ (Probleme/Zustände im Bereich der sexuellen Gesundheit) zugeordnet worden. Damit ist ein wesentlicher Schritt in Richtung Entpathologisierung getan. Dies ist insofern von großer Bedeutung, als die bisherige Diagnose „Transsexualismus“ in die Rubrik der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen fällt und dadurch massgeblich zur Stigmatisierung und zur gesellschaftlichen Marginalisierung von Trans*menschen beigetragen hat. Ausserdem referiert die Diagnose Geschlechtsinkongruenz nicht auf ein Zweigeschlechtermodell und stellt auch insofern einen Fortschritt gegenüber der früheren Diagnose „Transsexualismus“ dar.

bpb 2018

Ob die Person über eine Ausbildung und ausreichende berufliche Erfahrung verfügt, um § 4 Abs. 3 TSG gerecht zu werden ist fraglich und daher berechtigt anzuzweifeln. Zumal mit dem zweiten Kommentar deutlich wird, dass die Person kein oder falsches Wissen zur rechtlichen Grundlage der Gutachten hat.

Wie das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss 1 BvR 747/17 vom 17. Oktober 2017 Abs. 12 festgestellt hat, sind die Gutachten aus dem TSG-Verfahren ausschließlich für das rechtliche Verfahren der Vornamens- und Personenstandsänderung zu erstellen.

a) Die Begutachtung nach § 4 Abs. 3 TSG darf sich nur auf solche Aspekte beziehen, die für die sachliche Aufklärung der in § 1 Abs. 1 TSG normierten Voraussetzungen des Namens- und Personenstandswechsels relevant sind. Wenn sich – wie die beschwerdeführende Person unter Berufung auf empirische Studien geltend macht – Begutachtungen nach § 4 Abs. 3 TSG in der Praxis auf Informationen erstrecken sollten, die nach heute geltenden diagnostischen Kriterien zur Feststellung der Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 TSG nicht relevant sind, ist dies durch § 4 Abs. 3 TSG nicht gedeckt. Vor allem wegen des regelmäßig intimen Charakters der Fragen, die in der Begutachtung nach § 4 Abs. 3 TSG gestellt werden, beeinträchtigt dies die Grundrechte der Betroffenen. Die Gerichte haben daher bei der Erteilung des Gutachtenauftrags und bei der Verwertung des Gutachtens insbesondere darauf zu achten, dass die Betroffenen nicht der Begutachtung hinsichtlich solcher Fragen ausgesetzt sind, die für die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 TSG keine Bedeutung haben. Außerdem darf das Gutachtenverfahren nach § 4 Abs. 3 TSG nicht dazu genutzt werden, die Betroffenen zu einer therapeutischen Behandlung ihrer (als vermeintliche Krankheit begriffenen) Transsexualität hinzuführen.

BVerfG, 22.02.2017 -1 BvR 747/17- Abs. 12

Das Bundesverfassungsgericht hat also eindeutig und unmissverständlich gesagt, dass die Gutachten aus dem TSG-Verfahren keinen Einfluss auf das medizinische Verfahren haben dürfen. Es ist deshalb äußerst fraglich, ob dadurch die Gutachten aus einem TSG-Verfahren der Mitwirkungspflicht der versicherten Person gem. SGB II (§§ 60 bis 65 SGB I) unterliegen, da sie keine medizinischen Unterlagen im Sinne des Sozialgesetzbuches (SGB) darstellen.

Auch die aktuelle Begutachtungsanleitung „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus gem. ICD-10, F64.0“ (Stand 31. August 2020) sagt zu den Gutachten aus dem TSG-Verfahren folgendes (Seite 9, Abs. 2.3):

2.3 Transsexuellen-Gesetz (TSG)
Im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) spielen die Regelungen des TSG von 1980 nur eine untergeordnete Rolle. Die im Rahmen des TSG-Verfahrens erstellten psychiatrischen bzw. psychologischen Gutachten zur Vornamens- und Personenstandsänderung nehmen auftragsgemäß keine Stellung zur medizinischen Indikation geschlechtsangleichender Maßnahmen, wenngleich deren Inhalte zu psychosozialer Anamnese und Diagnosefeststellung für die sozialmedizinische Begutachtung hilfreich sein können.
Im TSG sind Fragen der medizinischen Behandlung bei Transsexualismus bzw. Geschlechtsdysphorie und damit möglicherweise zusammenhängenden Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht geregelt.

https://www.mds-ev.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/GKV/Begutachtungsgrundlagen_GKV/BGA_Transsexualismus_201113.pdf, Zugegriffen: 01.12.2020

Nach einer weitergehende Recherche ergaben sich weitere Zweifel an der Kompetenz und Eignung der Person. So sprach sie in einem Facebook-Post aus dem September 2020 von „Geschlechtsumwandlung“. Eine Begrifflichkeit, die jede Person, welche intensiv mit transsexuellen Menschen arbeitet, aus dem persönlichen Wortschatz gestrichen hat. Es zeigt, die Person verfügt nicht über die empathischen Fähigkeiten, die im Gespräch mit transsexuellen Menschen erforderlich sind.

Unentschuldbar hingegen ist, dass die Person glaubt, in einer Facebook-Gruppe das notwendige Fachwissen zu finden. Sie erhält Aufträge von Amtsgerichten zur Begutachtung transsexueller Menschen und verfügt gar nicht über die notwendigen Kompetenzen?

Auch die Verwendung des Begriffs „Identitätsdiffusion“ für Transsexualität zeigt die fachliche Inkompetenz. Mir ist bekannt, dass Wikipedia keine zitierfähige Quelle darstellt, dennoch zeigt die Erklärung des Begriffs, welch Geistes Kind die begutachtende Person zu sein scheint.

Identitätsdiffusion beschreibt das Problem der Zersplitterung der eigenen Ich-Identität (Selbstbild). Sie beruht auf den Zweifeln der eigenen zum Beispiel ethnischen, sozialen oder geschlechtlichen Identität, entstanden durch Unsicherheiten im eigenen Handeln und Entscheidungen beziehungsweise Orientierungslosigkeit.

Quelle: Wikipedia (Identitätsdiffusion – Wikipedia)

Entgegen aller wissenschaftlicher Erkenntnisse erscheint die Sicht der begutachtenden Person auf transsexuelle Menschen ganz im Sinne der Psycho-Pathologisierung der 1970er Jahre und damit keineswegs dem § 4 des Transsexuellengesetz entsprechend.

Langer Rede, kurzer Sinn: Es ist schlicht ein Skandal, wie einzelne Psycholog*innen mit dem Schicksal transsexueller Menschen umgehen und aus deren Lebenssitaution finanziellen Gewinn schlagen. Transsexuelle Menschen leiden unter dem unwürdigen TSG-Begutachtungsverfahren des vergangenen Jahrhunderts. Sie erwarten von Psycholog*innen Hilfe und Unterstützung. Ich möchte hier auch gerne nochmals auf den Beitrag „Verhört und erniedrigt“ von Jessica Gerhard verweisen. Dass Gutachten erstellt werden, ergibt sich aus der aktuellen Rechtslage des noch immer gültigen Transsexuellengesetzes in Deutschland. Ohne Gutachten wären Vornamens- und Personenstandsänderungen für transsexuelle Menschen aktuell nicht möglich. Aber aus der rechtlichen Zwangssituation, in der sich transsexuelle Menschen befinden ein Geschäftsmodell zu entwickeln ist unethisch und verwerflich.


Quellen:

Bundesamt für Justiz (2020). Zusammenstellung der Geschäftsübersichten der Amtsgerichte. https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Justizstatistik_node.html, Zugegriffen: 08.02.2021

Meyenburg, B., Renter-Schmidt, K. & Schmidt, G. (2015). Begutachtung nach dem Transsexuellengesetz. Auswertung von Gutachten dreier Sachverständiger. Zeitschrift für Sexualforschung, 2015; 28; S. 107-120. DOI 10.1055/s-0035-1553083

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