Es ist den meisten Menschen nicht bekannt, dass das, was wir lesen, hören oder sehen, von unserem Gehirn nicht ausschließlich rational verarbeitet und interpretiert wird. Die Mehrzahl aller Informationen und medialen Reize verarbeitet unser Gehirn unterbewusst und nach sog. Heuristiken (Kahneman, 2011). Diese Heuristiken sind im Grunde „Regeln“, die wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben oder auch in unserem Gehirn von Natur aus fest verankert sind, weil sie sich im Laufe der menschlichen Entwicklung als hilfreich, sinnvoll oder sogar lebensrettend bewährt haben. Die Heuristiken helfen uns, Wahrscheinlichkeit von Eigenschaften und Ereignissen zu bewerten, wie genau diese einem bestimmten Muster entsprechen. Die Heuristiken führen jedoch nicht selten zu Fehlern bzw. Fehleinschätzungen.
Neben den Heuristiken benutzt der Menschen mentale Strukturen (Schemata), die sein Wissen über die soziale Welt ordnen. Die mentalen Strukturen haben Einfluss auf die Informationen, die wir abspeichern. Wenn sich Schemata auf Mitglieder einer sozialen Gruppe, eines Geschlechts oder einer Rasse beziehen, bezeichnet man sie gemeinhin als Stereotype (Aronson et. al., 2008). Diese Schemata sind für den Menschen nützlich und wichtig, um unsere Umwelt zu ordnen, ihr einen Sinn zu geben und um unsere Wissenslücken zu schließen. Sie sind dann besonders wichtig, wenn wir mit Informationen konfrontiert werden, die auf unterschiedliche Weise interpretiert werden können. Sie helfen uns, die Mehrdeutigkeit zu reduzieren (Aronson et. al., 2008). Solange wir Grund zu der Annahme haben, dass unsere Schemata korrekt sind, ist es völlig vernünftig, sie anzuwenden, um Mehrdeutigkeiten zu klären (Aronson et. al, 2008).
„Die Art und Weise wie wir sprechen, prägt unsere Sichtweise auf die Welt, die Muster, in denen wir denken und wahrnehmen. Sprache schafft – Phrase, aber trotzdem wahr – Bilder im Kopf, sie liefert einen Rahmen, in dem wir reflektieren und unsere Meinungen entwickeln.“
(Julian Dörr, aus „Gewalt gegen Frauen ist Gewalt von Männern“,
Süddeutsche Zeitung online, 26.12.2017
Stereotype
Stereotype im Allgemeinen sind persönliche Überzeugungen bzw. Erwartungen bzgl. der Merkmale und Eigenschaften von Menschen oder Gruppen, welche wir auf diese Person(en) übertragen oder beziehen und als für diese Person(en) vermeintlich typisch erachten. Stereotype können als Wissen, welches sozial übermittelt und kulturell geteilt wird beschrieben werden. Die Zuordnung eines Stereotyps auf eine Person verläuft in der Regel sehr schnell, automatisch und unterbewusst sobald wir anderen Personen begegnen. Daniel Kahneman weist diese automatisierten Vorgänge in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ dem „System 1“ unseres Gehirns zu. Die Gedankenprozesse im „System 1“ erfolgen automatisch, unbewusst, sehr schnell und weitgehend mühelos. Es ist immer aktiv, kann nicht abgeschaltet bzw. deaktiviert werden, funktioniert ohne willentliche Steuerung und arbeitet Wahrnehmungen und Reize stereotyp ab. Bezüglich der Verwendung von Stereotype können diese Fehleinschätzungen als Interpretation dafür herangezogen werden, dass Menschen Eigenschaften oder Ereignissen oft Bedeutungen zuweisen (bzw. unbewusst zu erkennen glauben), welche in Wirklichkeit nicht zusammenhängen oder nicht vorhanden sind. Nach Athenstaedt/Alfermann (2001) ist eine Funktion von Stereotype die soziale Wahrnehmung dadurch zu vereinfachen, dass Individuen in Schubladen gesteckt werden und auf Basis von Kategorienzugehörigkeit beurteilt werden.
Zur seriösen journalistischen Arbeit sollte es grundsätzlich dazugehören, sich eingehend mit einer Thematik auseinanderzusetzen, zu reflektieren, den aktuellen Stand der Wissenschaft nicht unbeachtet zu lassen und sich über die Wirkung des Geschaffenen im Klaren zu sein.
Geschlecht ist vielfältig, wie auch das Bundesverfassungsgericht am 10.10.2017 bestätigt hat, auch wenn es Teile der Gesellschaft noch nicht anerkennen wollen. Geschlecht ist »Mann« und »Frau«, so wurde es zumindest viele Jahrhunderte in der Gesellschaft gesehen, war Inhalt von Religions- und Biologieunterricht. Doch Geschlecht ist nicht binär, es ist vielmehr eine analoge Skala, deren äußere Enden von den gesellschaftlich etablierten Geschlechtern Mann und Frau begrenzt wird. Dazwischen gibt es unendlich viele Varianten von Geschlecht. Doch wer soll das verstehen? Vor allem diejenigen, die ihre eigene Geschlechtszuweisung bei Geburt noch nie in Frage gestellt haben. Der Wunsch, alles möglichst einfach und simpel zu erklären ist verständlich. Und Journalist*innen wollen, dass alle, unabhängig von ihrem Wissensstand, ihrem Bildungsniveau oder ihrer persönlichen Einstellungen, den Inhalt deines Beitrages verstehen können. Doch diese Simplifizierung einer komplexen Thematik führt nicht selten dazu, dass Menschen dadurch diskriminiert und ausgegrenzt werden.
Das Unwort…
Wenn einem Menschen bei Geburt ein Geschlecht zugewiesen wurde und dieses nicht mit dem Wissen über das eigene Geschlecht übereinstimmt dann wünschen sich diese Personen meist, ihren Körper an dieses Geschlechtswissen anzupassen. Medial und leider auch von Medizinern wird dabei oft das Unwort »Geschlechtsumwandlung« genutzt. Unwort? Ja, für die meisten geschlechtsvarianten Menschen ist es, das Unwort schlechthin. Leider ist das Unwort »Geschlechtsumwandlung« aus dem Wortschatz von Journalist*innen nicht auszulöschen. Viele Medienschaffende berufen sich darauf, dass das Wort doch auch offiziell im Duden zu finden wäre. Der Duden beschreibt den Ausdruck so:
»natürliche oder durch äußere Einwirkungen bewirkte Umwandlung des Geschlechts bei einem Individuum«.
https://www.duden.de/rechtschreibung/Geschlechtsumwandlung
Der Begriff suggeriert, das Geschlecht eines Menschen könnte verändert, also umgewandelt werden. Er basiert auf der Annahme, dass die Genitalien eines Menschen zugleich seinem Geschlecht entsprechen. In anderen Beiträgen auf dieser Webseite wurde versucht zu erläutern, warum dies falsch sein kann und eben nicht für jeden Menschen gelten muss. Auch wenn ein geschlechtsvarianter Mensch weiß, welches Geschlecht er hat und die Wissenschaft belegen kann, dass das Geschlecht eben nicht (nur) anhand der Genitalien definiert werden kann, wird von Medienschaffenden meist noch immer vehement an der »Genitalfixierung« festgehalten. Ein bekannter Chirurg hat einmal, in Anspielung auf die Harry Potter-Romane von J.K. Rowling sinngemäß folgendes dazu gesagt:
»Umwandeln ist etwas für Zauberer und Magier. Ich war nicht in Hogwarts und bin nicht von Gleis 9 ¾ zur Uni gefahren. Ich habe Medizin an einer deutschen Universität studiert, eine Facharztausbildung als Chirurg und eine Zusatzausbildung als plastischer Chirurg. Ich wandle also niemanden um, ich führe genitalanpassende Operationen durch.« Der korrekte Ausdruck wäre also »genitalangleichende oder genitalanpassende Operation«.
Gelegentlich wird auch noch der Ausdruck »geschlechtsangleichende oder geschlechtsanpassende Operation« verwendet. Wenn man pingelig ist, dann ist das jedoch auch falsch, denn – wie gesagt – das Geschlecht des Menschen ist nicht änderbar und kann nicht angepasst werden. Besser wäre es, es so zu beschreiben, wie es ist: Die körperlichen Merkmale, also die Genitalien, werden an das Geschlechtswissen angepasst. Genitalanpassende Operation wäre die wohl treffendste Beschreibung. Eigentlich ganz einfach, oder?
Es ist sicherlich kein Geheimnis, dass Medien als Wirtschaftsunternehmen überwiegend an einer Steigerung ihrer Auflage, hohen Einschaltquote oder mehr Clicks in sozialen Medien interessiert sind. Wer kennt sie nicht, die Geschichten über transsexuelle und transgender Menschen, die »vom Mann zur Frau werden wollen«, »die eine Geschlechtsumwandlung durchgeführt haben«, »die als Mädchen geboren wurden und nun ein Mann sein wollen«. Die Medien bedienen sich mehrheitlich noch immer einem Sprachgebrauch, der diese Stereotype vom »sein wollen«, »werden möchten« und »Geschlechterwechsel« zementieren. Es wird suggeriert, es handle sich um eine Art »Lifestyle« oder ein »Wünsch-Dir-Was«. Medial wird also noch immer transportiert, dass transsexuelle Frauen eben Männer sind, die gerne eine Frau sein wollen oder transsexuelle Männer, die sich wünschen ihr weibliches Geschlecht zu ändern.
Transmensch, Transfrau, Transmann… ?
Gerne verwenden Medien auch Adjektiv-Nomen-Verbindungen wie z.B. »Transmensch«, »Transfrau« oder »Transmann«. Ich kritisiere diese Adjektiv-Nomen-Konstrukte aufs Schärfste. Warum? Transsexuell, transident oder transgender zu sein, stellen Eigenschaften eines Menschen dar. Ein Hund mit braunem Fell wird dadurch nicht automatisch zu einem Braunhund. Nicht alle Vögel mit roter Kehle sind Rotkehlchen und Menschen mit bloden Haaren werden nicht zu Blondmenschen. Bisher ist mir noch nicht untergekommen, dass Medien homosexuelle Menschen als Schwulmenschen bezeichnen. Die Adjektiv-Nomen-Verbindung, wie zum Beispiel »trans« und »Mensch« zu »Transmensch« (analog gilt das natürlich auch für Menschen mit Intersexualität) schafft eine neue Art. Eine neue Art eines Menschen. Geschlechtsvariante Menschen sind Menschen aber keine Unterart des Menschen, wie z.B. der ausgestorbene Neandertaler.
Warum also sollte gerade bei transsexuellen, transidenten oder transgender Menschen eine Verknüpfung erforderlich sein – außer, man möchte bewusst eine nicht »normale« Besonderheit hervorheben.
Trotz vieler Proteste von geschlechtsvarianten Menschen und deren Interessensvertretungen findet medial eine permanente Beurteilung und Fremdbestimmung statt, die transsexuellen, transidenten oder transgender Menschen ihr Wissen über ihr eigenes Geschlecht in Abrede stellt. Was die Medien unter dem Deckmäntelchen der Aufklärung veröffentlichen, dient leider viel zu oft nur der Bedienung des Voyeurismus der Zielgruppe. Gerne werden »Vorher-Nachher-Stories« produziert. Besonders wichtig erscheint es für Medienschaffende auch zu sein, den früheren Namen der Person zu erwähnen oder darauf hinzuweisen, dass die Person als »jemand anderer geboren« wurde. Nicht selten wird der Beitrag mit schlüpfrigem Bildmaterial unterlegt, das übertrieben geschminkte, meist Drag Queens oder Transvestiten in aufreizender Kleidung auf Christoper Street Days oder anderen Veranstaltungen zeigt. Mit der tatsächlichen Lebensrealität geschlechtsvarianter Menschen hat dies wenig bis gar nichts zu tun.
Wer über transsexuelle, transidente oder transgender Menschen berichtet, muss sich darüber im Klaren sein, dass es Reaktionen darauf geben wird – positive wie negative. Viele transsexuelle, transidente oder transgender Menschen haben eine gewisse Erwartungshaltung oder Ziele, die sie mit der Veröffentlichung ihrer Lebensgeschichte verfolgen. Damit diese Erwartungen und Ziele auch erfüllt werden, ist es sinnvoll, sich im Vorfeld eingehend mit der Thematik auseinanderzusetzen.
Nicht jeder Beitrag zum Thema Transsexualität, Transidentität oder Transgender ist für andere geschlechtsvariante Personen hilfreich, manchmal ist sich auch die Person selbst über mögliche Folgen für andere nicht im Klaren. Vor allem dann, wenn eben negativ besetzte Stereotype und Klischees damit weiter gefestigt werden.
Medienschaffende sollten also unbedingt bedenken, auch wenn es sich um eine persönliche Lebensgeschichte handelt, dass mit deinem Beitrag auch eine gewisse Verantwortung dafür übernommen wird, was für ein Bild über transsexuelle, transidente oder transgender Menschen allgemein „transportiert“ wird – besonders bei Leser*innen, Zuhörer*innen bzw. Zuschauer*innen, die die dargestellte Person nicht persönlich kennen. Wenn eine Aussage nicht allgemeingültig für alle transsexuellen, transidenten oder transgender Personen ist, dann wäre es fair, dies auch deutlich herauszustellen und als die persönliche Sichtweise der Person, über die berichtet wird, darzustellen.
Du möchtest über deinen persönlichen Lebensweg als geschlechtsvarianter Mensch in den Medien berichten und sicherstellen, dass du richtig bezeichnet wirst und dein Geschlecht korrekt zum Ausdruck gebracht wird? Dann nutze einfach die Checkliste für Medienschaffende (ausfüllbares PDF-Formular)…