Vor allem cisgeschlechtliche Menschen wissen wenig über die Hintergründe der medizinischen, psychologischen und auch juristischen „Behandlung“ transgeschlechtlicher Menschen. Auch jüngere transgeschlechtliche Menschen können nicht verstehen, warum die Regeln in Deutschland so sind, wie sie sind. Um zu verstehen, auf welcher Basis die medizinischen Leitlinien und auch gesetzlichen Regelungen zu Beginn der 1980er Jahre entstanden sind, kommt man an einem Buch von 1979 nicht vorbei. Wer die aktuellen Diskurse zum Selbstbestimmungsgesetz verfolgt, wird feststellen, dass sich einige Argumente derjenigen, die eine Vereinfachung der Vornamens- und Personenstandsänderung ablehnen, in den nachfolgenden Ausführungen widerfindet.
»Sexualität und Medizin« von Volkmar Sigusch
Ich möchte in diesem Beitrag, exemplarisch für viele andere, einen sogenannten »Experten« und dessen Aussagen bezüglich transgeschlechtlicher Menschen vorstellen. Der deutsche Psychiater und Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch (zusammen mit Bernd Meyenburg und Reimunt Reiche) beschrieb in seinem Werk »Sexualität und Medizin« (1979) zwölf sogenannte Leitsymptome des Transsexualismus. Sigusch beeinflusste gegen Ende der 1970er Jahre maßgeblich die Formulierungen des deutschen Transsexuellengesetzes und gilt auch heute noch als einer der einflussreichsten Sexualwissenschaftler dieser Zeit. Seine Leitsymptome finden leider auch noch heute bei der »Dignose Transsexualismus« und bei vielen »Sachverständigen« bei der Erstellung von Gutachten nach dem Transsexuellengesetz Anwendung. Zudem beeinflussen diese Leitsymptome des Transsexualismus das gesellschaftliche und politische Bild von transgeschlechtlichen Menschen bis heute.
Im Leitsymptom 1 (S. 250) schreibt Sigusch:
»…Trotz oft erheblicher Realitätsverfälschung zeigen Transsexuelle normalerweise, d.h. außerhalb von Krisensituationen, keine wirklich psychotischen Symptome oder Reaktionen. (Ihre Intelligenz ist durchschnittlich, oft sogar überdurchschnittlich. Eine spezifische Beziehung zur allgemeinen kriminellen Delinquenz besteht nicht.)«
Weiter sagt Sigusch, dass »Transsexuelle« von einem Verlangen nach Geschlechtswechsel besessen sind, welcher in der Regel seit der Kindheit besteht und mit zunehmendem Alter immer intensiver, dranghafter wird und suchtartigen Charakter annehme (Leitsymptom 3, S. 251). Bereits in der Kindheit würden transsexuelle Menschen die Empfindungen und die Verhaltensweisen des anderen Geschlechts zeigen (Leitsymptom 5, S. 251). Das Tragen von Kleidern des anderen Geschlechts, das sog. »Cross-dressing« tritt laut Sigusch bereits bei Kindern auf und ist progredient, d.h. es nimmt mehr und mehr zu. »Transsexuelle« würden die perfekte Imitation aller Reaktionen, Ausdrucks- und Verhaltensweisen des „begehrten“ Geschlechts annehmen. Er gibt an, dass »Transsexuelle« sogar das »Wasserlassen« (Miktion), des anderen Geschlechts imitieren würden (Leitsymptom 6, S. 251).
»Im Erwachsenenalter nehmen Transsexuelle einen Geschlechterrollenwechsel im privaten und beruflichen Bereich bis hin zur Heirat in der neuen Geschlechterrolle vor, nicht selten ohne irgendwelche ärztlichen Maßnahmen. Diese Transformation imponiert oft besonders durch die starre und klischeehafte Übernahme und Überzeichnung kulturell herrschender oder bereits überlebter Ideale von Männlichkeit oder Weiblichkeit.[1]«
Im Leitsymptom 8 sagt Sigusch, dass »Transsexuelle« eine starke Abwehr und Ablehnung der Homosexualität zeigen und den Wunsch haben, „makellose“ heterosexuelle Beziehungen eingehen wollen und Perversionen und perverse Manifestationen über eine längere Periode nicht vorkommen (S. 252). Die nachfolgende Aussage (Leitsymptom 9, S. 252) von Sigusch lassen Sie sich bitte auf der Zunge zergehen:
»Im ärztlichen Gespräch wirken Transsexuelle kühl – distanziert und affektlos, starr, untangierbar und kompromißlos [sic!], egozentrisch, demonstrativ und nötigend, dranghaft besessen und eingeengt, merkwürdig uniform, normiert, durchtypisiert… Bei oft gesten- und floskelreicher Redseligkeit wirkt der Patient stereotyp, monoton, fassadenhaft.[2]«
Wenn Sie jetzt glauben, schlimmer geht es nicht mehr, dann möchte ich Ihnen das Leitsymptom 10 nicht vorenthalten:
»Psychotherapie lehnen Transsexuelle ab. Kastration ist für sie eine natürliche Maßnahme… Sie geben dem Untersucher von Anfang an zu verstehen, daß [sic] er sich um nichts als ihre „Geschlechtsumwandlung“ zu kümmern habe. Krankheitseinsicht fehlt völlig… Ganz im Gegensatz zu den klassischen Perversionen macht der Transsexuelle sein Leiden öffentlich.[3]«
Jetzt haben Sie es fast geschafft, nur noch zwei Leitsymptome fehlen noch. Sigusch bescheinigt transsexuellen Menschen die Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Bindungen, weil ihnen
»Einfühlungsvermögen und Bindungsfähigkeit weitestgehend fehlen[4]«.
»Transsexuelle« unterliegen einer
»totalen Polarisierung im Sinne des Alles-oder-nichts, Ganz-oder-gar-nicht, Sofort-oder-nie« und dies würde »alle Erlebens- und Verhaltensbereiche«
betreffen[5]. Und wenn sie das nicht bekommen, so Sigusch, dann greift das Leitsymptom 12 (S. 252). »Transsexuelle« reagieren oft
»gereizt-aggressiv bis hin zu schweren Verstimmungen. Alle Transsexuellen weisen eine Tendenz zum psychotischen Zusammenbruch unter Streß [sic], in Krisensituationen auf. Ernstzunehmende Selbstmord- und Selbstverstümmelungsversuche kommen dann vor.«
Ich möchte es hier nicht weiter aufführen, was Sigusch neben polysymptomatischer Neurosen, polymorph-perverser sexueller Züge und chronisch, diffuser, freiflutender Angst (S. 262) noch alles ausführt.
Der misslungene Versuch einer Entschuldigung
1995 unternahm Sigusch einen (halbherzigen) Versuch, sich für dies Leitsymptome zu „entschuldigen“. In seinem Buch »Geschlechtswechsel« (1995) schrieb er (Sigusch) zu den Leitsymptomen des Transsexualismus (S. 90):
»Ich sehe also heute auch unsere Leitsymptome unter dem Aspekt medizinischer Totalisierung und klinischer Pathologisierung. Das heißt [sic!] nicht – schließlich ist die »Psychopathia sexualis«* hundert Jahre alt -, daß [sic!] sie an der phänomenalen Wirklichkeit der Patienten vollkommen vorbeiformuliert wären, und sicher haben sie, immer wieder revidiert, ihre diagnostische Berechtigung, soern sie als das angesehen werden, was sie immer sein sollten: eine generalisierende Orientierungshilfe auf dem sexualwissenschaftlichen Weg zu einer Symptomdiagnose, die deskriptiv ist und sich auf das stützt, was bewußt [sic!] ist.«
Sigusch, Volkmar. 1995. Geschlechtswechsel. Hamburg: Rotbuch Verlag
Ein bisschen Selbstmitleid und den Versuch einer Rechtfertigung durfte natürlich nicht fehlen (S. 91):
»So hat der Tribut, den ich persönlich bei der Formulierung der Leitsymptome endlich einmal an die verdienstvolle deskriptiv-phänomenologische Arbeit meiner psychiatrischen Lehrer entrichten wollte, einen nicht unwesentlichen Abschnitt unseres Kernaufsatzes zu Thema Transsexualität recht unkritisch an jene klassische Psychiatrie angeschlossen, die auffällige und kranke Menschen herabsetzte. Das neunte Leitsymptom, das davon handelt, wie Transsexuelle im ärztlichen Gespräch wirken, weist sie in einem mir heute unangenehmen Stakkato zurück: affektlos, starr, kompromißlos [sic!], egozentrisch, demonstrativ, nötigend, dranghaft, besessen, uniform usw.«
Bedenkt man, welche langfristigen Auswirkungen Siguschs Leitsymptome des Transsexualismus auf das Leben tausender transgeschlechtlicher Menschen in den vergangenen Jahrzehnten bis heute haben, dann erscheint die Aussage von Sigusch besonders zynisch und kommen einer Kapitulationserklärung der Sexualwissenschaft gegenüber transgeschlechtlichen Menschen gleich (S. 91):
»Heute denke ich, dieses Leitsymptom [Anm.: Leitsymptom 9], das ich auch aus späterer klinischer Erfahrung nicht mehr vertrete, hat mit meiner damaligen Situation (und Abwehr) mindestens ebensoviel zu tun wie die damalige Situation (und Abwehr) der transsexuellen Patienten. Bedrängt, geschoben, verstrickt und entsetzlich genervt von den allzu vielen Transsexuellen, die zur Frankfurter Abteilung pilgerten (die anfänglich nur aus mir und einem Assistenten bestand), habe ich mich sadistisch gerächt – wie vielleicht sogar bei generalisierender Betrachtung mit dem ganzen „Programm“ der Untersuchung und Behandlung – nach der unbewußten [sic!] Devise: „Wenn ihr mich schon bis aufs Blut peinigt, dann werde ich euch sagen, was von euch zu halten ist und wer letztendlich die Geißel schwingt.«
Unter welchem Einfluss die Ausgestaltung des Transsexuellengesetz stand, macht Sigusch (2015, S. 121) deutlich:
»Ein unvergessliches Beispiel aus der politisch-sexuologischen Praxis ist schnell erzählt: Als 1980 ein von uns schon einige Zeit empfohlenes Gesetz über die Geschlechtszugehörigkeit von Geschlechtszweiflern und Geschlechtswechslern am Widerstand der damaligen Mehrheit einer Volkspartei im Bundesrat zu scheitern drohte, reisten Eberhard Schorsch und ich, von der damaligen Koalition gerufen, nach Bonn, um vor dem Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat unsere fachwissenschaftlichen Beweggründe zu erläutern. Unser oberstes Ziel war es, dass endlich jenen Menschen, die ihr bei der Geburt festgelegtes Geschlecht verlassen hatten oder aufgeben wollten, auf dem Weg der freiwilligen Gerichtsbarkeit und im Sinne einer sogenannten Rechtswohltat gesetzlich gestattet würde, einen ihrem gelebten Geschlecht angemessenen Vornamen zu führen und ihren sogenannten Personenstand zu ändern. Personenstand – das meint rechtlich bemerkenswerterweise nicht freien Willens oder willenskrank, beruflich selbstständig oder abhängig beschäftige, strafmündig oder strafunmündig, geschäftsfähig oder geschäftsunfähig, vorbestraft oder unbescholten, nein: es meint natürlich w oder m, ganz konkret: den alles, auch die Heiratsfähigkeit entscheidenden Eintrag ins Keimbahn-Buch über die immer festzusetzende Geschlechtszugehörigkeit. Die Lage im Vermittlungsausschuss, einem Schalthebel der politischen Macht, war scheinbar eingeschlechtlich, also ganz normal patriarchal. Morphologisch anwesend waren nur Männer, Abgeordnete, Regierungsmitglieder, Ministerialbeamte, Sachverständige. Es war so, als säßen morphologisch nur Frauen zusammen und definierten, wer rechtlich ein Mann ist, und als hätten sie auch die Macht dazu. Die Lage war kulturell so essenziell, dass ein Staatssekretär das tat, was ansonsten eine Sekretärin tut. Als wir nun ernst und zwangsläufig männlich das Für und Wider des – schließlich am 1. Januar 1981 in Kraft getretenen – »Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG)« erörterten, wurde einem Abgeordneten, der später Landesjustizminister und Richter am Bundesverfassungsgericht wurde, die ganze Tragweite der rechtlichen Operation mit einem Schlag klar. Er sagte: »Das geht ans Eingemachte!«
(Sigusch 2015, S. 121f).
Weil das damals erkannt wurde, dürfen Geschlechtswechsler trotz der ihnen per Lex specialis gewährten Rechtswohltat keineswegs oszillieren zwischen m und w. Der Satz vom ausgeschlossenen Geschlecht«, von dem die Rede war, hatte seine ideologische, psychologische und, wie wir annehmen, seine nur scheinbar formal-logische Notwendigkeit bewiesen: Auch Transsexuelle seien entweder w oder m. Das Transsexuellengesetz ist also ein Zweigeschlechtlichkeitswiederherstellungsgesetz, genauer: ein Zissexuellengesetz (#42).«
Es ist an der Zeit, das Transsexuellengesetz aus den 1980er Jahren endlich durch ein menschenwürdiges und diskriminierungsfreies Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen, der Psychologie die Deutungshoheit zu entziehen und transgeschlechtlichen Menschen endlich ein Leben in Würde und Respekt zuzugestehen .
Tipp: Im ZEIT-Podcast „Man hielt uns für abartig, pervers und krank“ von Sven Stockrahm und Melanie Büttner schildert die Ärztin und Psychiaterin Annette Güldenring eindrucksvoll ihre Erfahrungen als transgeschlechtliche Frau.
Zum Podcast…
[1] Sigusch 1979, S. 251
[2] Sigusch 1979, S. 252
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Sigusch, Leitsymptom 11, S. 252
Sigusch, V. 2015. Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Frankfurt/New York: Campus Verlag