Kaum war die erste Hochrechnung der Europawahl 2019 veröffentlicht, da wurde eines deutlich: Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD hat eine herbe Niederlage erlitten. Die Sieger der Wahl waren eindeutig die Grünen und leider auch die Rechtspopulisten. Schnell wurde von den Generalsekretären der ehemaligen Volksparteien CDU und SPD konstatiert, die wichtigsten Themen seien das Klima und die „fridays for future“-Bewegung, die schuld an den Verlusten der Regierungsparteien wären. Sicher, die Untätigkeit beim Klimawandel und der Umgang mit den jugendlichen Protestierenden durch CDU und SPD hat besonders junge Wähler*innen dazu bewegt, sich von den Regierungsparteien abzuwenden. Es spielt denen in die Tasche, die sich in Umweltfragen eine gewisse Kernkompetenz erarbeitet hatten und sich mit den jungen Menschen solidarisierten, den Grünen.
Ob die ehemaligen Volksparteien bei ihrer Einschätzung, überwiegend ihren bisherigen Umgang mit der Jugend und den Klimawandel für die Verluste verantwortlich zu machen, richtig liegen und damit die Ursache für ihre Wahlverluste richtig erkannt haben, das kann durchaus in Frage gestellt werden. Betrachtet man die politischen Diskussionen und Themen der vergangenen Wochen vor der Wahl, so kann man die Liste der Gründe für das Wahldebakel der CDU/CSU und SPD noch weiter ergänzen. Die Personengruppe der sog. LGBTTIQ* bekam vor der Wahl deutlich gezeigt, was CDU/CSU und SPD von ihnen halten: Nichts!
Laut dem Bundeswahlleiter waren für die Europawahl 64.800.000 Menschen in Deutschland wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung lag in Deutschland bei 61,5 Prozent (WELT), das entspricht in etwa 40 Millionen Menschen. Die Berliner Dalia Research GmbH stellte 2016 eine repräsentative Studie zum Anteil der sog. LGBTTIQ* Personen in den europäischen Ländern vor. Laut der Dalia-Studie bezeichnen sich 7,4 % der Bevölkerung in Deutschland als der Personengruppe LGBTTIQ* zugehörig. Das entspricht, bei ca. 82 Mio. Einwohnern in etwa 6,15 Mio. Menschen. Gehen wir davon aus, dass die Wahlbeteiligung auch bei LGBTTIQ* Personen in etwa derer der Gesamtbevölkerung entspricht, so haben am vergangenen Sonntag rund 3,8 Mio. LGBTTIQ* Personen in Deutschland ihr Votum abgegeben.
Knapp 4 Millionen Menschen also, denen von CDU/CSU und SPD in den vergangenen Wochen mehrfach deutlich gemacht wurde, dass sie doch zufrieden sein müssten, mit dem, was ihnen der Gesetzgeber bisher an Rechten zugestehen will. Die Verweigerungshaltung der CDU/CSU, sexuelle und geschlechtliche Identität als schutzwürdig ins Grundgesetz aufzunehmen, das Abtun der Belange von LGBTTIQ* Menschen als „Schaufensterveranstaltung der Grünen“ in der aktuellen Stunde des Bundestags am 17.05.2019 durch den Bundestagsabgeordneten Axel Müller (CDU) und letztendlich auch die Rückschritte bei der Reform des Transsexuellengesetz und dem damit verbundenen Umgang durch die SPD-Spitzenkandidatin, Katarina Barley, die sich im Wahlkampf als „LGBTTIQ* Versteherin“ präsentierte, hat die „Community“ gegen die Regierungsparteien aufgebracht. Die ablehnenden Reaktionen auf den „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Änderung des Geschlechtseintrags“ aus vielen gesellschaftlichen Bereichen und von Organisationen (u.a. vom DBG, dem Deutschen Juristinnenbund, dem Deutschen Institut für Menschenrechte, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes usw.) haben die Ignoranz und Arroganz von CDU, CSU und SPD gegenüber den Grundrechten für Minderheiten deutlich aufgezeigt.
Es gibt also durchaus einen weiteren Grund für die Wahlschlappe von CDU/CSU und SPD. Das Ignorieren der Belange von fast 4 Millionen Menschen. Dies hat sich ebenso auf das Wahlergebnis ausgewirkt, wie die eingangs erwähnten Gründe Klimawandel und das Ignorieren der Jugend.
Betrachtet man die sog. „Wählerwanderung“, also derer, die von CDU, CSU und SPD zu anderen Parteien abgewandert sind, so dürfen dabei Menschen, die sich selbst zu den LGBTTIQ* Personen zählen von den ehemaligen „Volksparteien“ nicht ignoriert werden. Ein unbestimmter, aber sicherlich nicht zu unterschätzender Teil der LGBTTIQ* Wähler*innen haben den Regierungsparteien den Rücken gekehrt, weil sie sich nicht mehr länger akzeptieren, dass ihnen die Grundrechte aus Artikel 1 bis 3 unseres Grundgesetzes vorenthalten werden.
„Die Unantastbarkeit der Würde eines Menschen stehe über allem. Entscheidend dabei ist die Vorstellung von der Freiheit jedes einzelnen Menschen“, schrieb Frau Kramp-Karrenbauer in der ZEIT-Beilage „Christ und Welt“ am 22.05.2019. Betrachtet man diese Aussage der CDU-Parteichefin und stellt diese dem politischen Handeln und Agieren gegenüber, so werden zumindest transsexuelle und intersexuelle Menschen sich reichlich – sagen wir es vorsichtig – verschaukelt vorkommen. Solange CDU-Politiker mit Aussagen wie „Nur Gleiches muss gleich und Ungleiches muss ungleich behandelt werden“ (geduldet von einer angeblich LGBTTIQ*-freundlichen SPD) geschlechtsvarianten Menschen aufzeigen, dass sie nicht dieselben Rechte zugestanden bekommen, die der Mehrheit ganz selbstverständlich gewährt werden, solange werden mehr und mehr LGBTTIQ* Menschen zu den Parteien wechseln, die ihre Anliegen ernst nehmen und sich für sie einsetzen.
Ich bin der Überzeugung, dass bei der Europawahl 2019 ein nicht unerheblicher Anteil der Wähler*innen auch ihren Protest zum Umgang der Regierungskoalition mit Minderheiten zum Ausdruck gebracht haben. Zumindest glaube ich fest an die Solidarität für Minderheiten durch aufrechte Demokraten…
Wann werden CDU, CSU und SPD endlich verstehen: Wer Politik auf dem Rücken von Minderheiten macht wird von denen abgestraft, die zu unserem Grundgesetz und den darin veranketen Menschenrechten stehen oder spielt den Rechtpopulisten in die Arme.
Nachtrag (27.05.2019 – 23:30 Uhr):
Wie die CDU mit ihrer Wahlniederlage umgeht und offensichtlich nichts an Arroganz und Abgehobenheit verloren hat, macht deutlich, die CDU und ihre Parteivordersten haben den Schuss vor den Bug nicht verstanden. Frau Kramp-Karrenbauer ist der Ansicht, dass Meinungsäußerungen vor Wahlen zukünftig „reguliert“ werden sollten (im Göttinger Tageblatt , 27.05.2019), der Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg, Thomas Bareiß (CDU) ging Erstwähler per Twitter an („Wenn die #Erstwähler mal ihr eigenes Geld verdienen und selber spüren wer das alles bezahlen muss sieht die #Wahl vielleicht auch wieder anders aus. Ich bin sicher, dass schlussendlich die #Vernunft siegt. Also mal abwarten….„).
Siehe auch: „Barley verteidigt Reform des Transsexuellenrechts“, Queer 22.05.2019